… leben wir eigentlich?
Da steht ein Mann in einer größeren Bankfiliale. Steht? Nicht wirklich. Er liegt halb bewusstlos über dem Kontoauszug-Drucker. Es ist offensichtlich, dass irgendetwas nicht stimmt.
Menschen kommen in die Filiale. Heben Geld ab, drucken ihre Kontoauszüge keinen halben Meter neben ihm. Blicke werden getauscht. Verunsicherte Blicke, Schulterzucken. Die Menschen nehmen ihr Geld, ihre Kontoauszüge. Werfen sich noch einen kurzen Blick zu und gehen.
Niemand, niemand, niemand geht zu dem Mann. Niemand spricht ihn an. Niemand fragt ihn, ob alles okay ist. Ob es ihm gut geht. Ob er Hilfe braucht.
Die Menschen nehmen ihn durchaus wahr. Merken, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber niemand tut etwas. Es werden nur stumme Blicke getauscht und dann wird weitergegangen.
Ich will nicht behaupten, dass ich eine Heilige bin. Auch ich habe mich erstmal nicht anders verhalten. Auch ich habe den Mann schon beim Betreten der Filiale bemerkt und registriert, dass da irgendetwas nicht in Ordnung ist. Auch ich habe erstmal in aller Ruhe Geld abgehoben, meine Kontoauszüge gedruckt, Blickkontakt zu anderen Kunden gesucht. Auch ich war schon auf dem Weg nach draußen bevor ich dachte: „Himmel, das kannst du nicht machen! Du siehst, dass es da jemandem nicht gut geht. Geh hin und spreche diesen Mann an, Herrgottnochmal!“
Und ja, auch ich war verunsichert, hatte fast schon Angst, als ich zu ihm hinging und ihn ansprach, ihm auf die Schulter klopfte als keine Reaktion kam. Ja, auch ich habe mich unwohl gefühlt, als von ihm keine verständliche Antwort kam und ich mich entschloss den Rettungsdienst anzurufen. Ja, auch mein erster Impuls war, einfach zu gehen – habe ich doch Blickkontakt mit anderen Kunden gehabt und habe ich die Bestätigung bekommen, dass andere den Mann auch bemerkt und entschieden haben, nichts zu tun. Was die Mehrheit tut, wird schon richtig sein.
Ich bin nicht besser als andere. Ich kann auch nicht sagen, was mich letztlich dazu bewogen hat, hinzugehen und ihn anzusprechen. Letztendlich bin ich zwar froh darüber – wurde mir doch später vom Notarzt bestätigt, dass das eine verdammt gute Entscheidung war – aber mein erster Impuls war eben doch, einfach wegzuschauen und zu gehen.
In was für einer Welt leben wir, in der offensichtlich hilfsbedürftige Menschen gesehen – und sich selbst überlassen bleiben?
Und was für ein Mensch bin ich, dass ich fast genauso gehandelt hätte?
Ich kann verstehen, dass Menschen nicht eingreifen, wenn eine Gewalttat im Gange ist. Jeder hat den Drang sich selbst zu schützen. Wenn das Risiko besteht, selbst verletzt zu werden – oder Schlimmeres – ergreift man lieber die Flucht. Das verstehe ich. Wie man das moralisch bewerten will, sei dahingestellt, aber im Grunde ist es absolut natürlich, vor Gefahren zu fliehen.
Aber in diesem Fall? Welche Gefahr bestand denn? Im schlimmsten Fall wäre man hingegangen und hätte festgestellt, dass doch alles okay ist. Vielleicht wäre man ausgelacht worden, wäre in eine peinliche Situation geraten, weil man ein Problem aus etwas gemacht hätte, das kein Problem war. So what!? Man wäre weder verletzt noch getötet worden. Also – so what!?
Es stimmt mich nachdenklich. Und traurig.
In was für einer Welt leben wir und was für Menschen sind wir? Was für ein Mensch bin ich?!?
Und hätte es einen Unterschied gemacht, wenn der Mann einen schicken Anzug und eine lederne Aktentasche getragen hätte anstatt heruntergekommener Kleidung und einer Discounter-Plastiktüte? Vielleicht… Wer weiß…