Ich stehe an der Haltestelle und warte auf meinen Bus. Du kommst auf mich zu. Gehst an mir vorbei.
Glaubst du, ich bemerke deinen Blick nicht? Kaum hast du mich registriert, bleibt dein Blick an meinen Unterschenkeln heften. Ja, es ist ein heißer Sommertag, und ja, da trage auch ich kurze Klamotten. Wie jeder andere auch. Und ja, meine Haut ist gezeichnet von Narben. Das Leben ist nicht spurlos an mir vorbeigezogen.
Ja, ich weiß, dass meine Haut von vielen, vielen Narben durchzogen ist. Schnittwunden, Brandwunden, Verätzungen.
Ja, ich weiß, dass insbesondere meine Beine von deutlichen Narben gezeichnet sind.
Ja, ich kann verstehen, dass das erstmal Blicke anzieht. Geht mir nicht anders. Wenn jemand körperliche Auffälligkeiten hat, dann gucke ich auch hin. Tut jeder.
Aber hat dir niemand beigebracht, dass es einen Unterschied zwischen „kurz hingucken“ und „starren“ gibt? Oh ja, diesen Unterschied gibt es. Wirklich. Es ist normal und okay, mal kurz hinzuschauen, wenn irgendwo irgendetwas optisch auffällig ist.
Starren, glotzen – das ist etwas anderes.
Du bist schon fast an mir vorbeigegangen, als du mir doch noch in die Augen schaust. Kurz, sehr sehr kurz. Ich hoffe, die Millisekunden haben ausgereicht, damit du meinen missbilligenden Blick bemerkt hast.
Wie gesagt: ich kann verstehen, dass meine Narben deinen Blick gefesselt haben. Ich selbst würde auch etwas länger hingucken, wenn ich solche Narben sehe. Wer würde das nicht.
Trotzdem finde ich es unhöflich. Wenn nicht gar unverschämt. So viele Menschen sind irgendwie augenscheinlich „anders“. Aus welchen Gründen auch immer. So what! Es ändert nichts an ihrem Wert. Und nichts an ihrer Würde.
Meine Eltern haben mir früh beigebracht, andere Menschen nicht anzustarren. Das verletze ihre Würde, sei unhöflich, tut man einfach nicht. Mal kurz gucken – okay. Aber nicht starren. Tut man nicht. Aus Respekt vor dem anderen.
Sehe ich genauso. Natürlich guckt man bei „Auffälligkeiten“. Das ist normal und natürlich. Starren hingegen muss nicht sein. Das ist kein Reflex oder sowas. Das kann man bleiben lassen.
Oh ja, das kann man. Glaube mir. Das kann man. Wenn man will. Ja, wenn man will. Wenn man will.