Dass es mit den Selbstverletzungen momentan ganz gut aussieht, finden die Klinikmenschen super. Vor allem, dass es trotz des Krisenstresses wegen der Masterarbeit zu keinen Selbstverletzungen kam. Ewig nicht mehr in der Chirurgie gewesen, nur selten ein paar oberflächliche Wunden, lieber Krisenintervention als sonst was – wie toll!
Ich verschweige lieber, dass das nur eine Seite der Medaille ist. Im Grunde ist es kein bisschen besser geworden. Klar, die „klassische“ Selbstverletzung durch Schneiden und Verbrennen habe ich gut im Griff. Dafür läuft’s eben an anderer Stelle aus dem Ruder.
Eigentlich fing’s ganz harmlos und vernünftig an: mit den typischen Neujahrs-Vorsätzen „gesünder ernähren“ und „mehr bewegen“. Nimmt sich das nicht irgendwie fast jeder zu Beginn eines neuen Jahres vor…? Ist ja eigentlich auch okay, vor allem wenn man sich wirklich ungesund ernährt, kaum bewegt und starkes Übergewicht hat.
Problematisch wird’s, wenn man essgestört war ist. Das ist ein Problem, über das ich nur ungern rede. Mit den Klinikmenschen habe ich noch nie darüber gesprochen. Nur mal beiläufig erwähnt, dass ich in der Jugend bulimisch war.
Haha – als ob das längst der Vergangenheit angehört und Essstörung kein Thema mehr wäre!
Es ist nach wie vor ein Thema. Aktuell ein sehr großes Thema – für mich selbst jedenfalls; mit den Klinikmenschen spreche ich ja nicht darüber, also ist es für sie überhaupt kein Thema.
Ganz am Anfang des Jahres war’s noch okay – ein bisschen auf die Ernährung achten, ein bisschen mehr bewegen. Es hat nicht lange gedauert, bis es zu viel des Guten wurde. Ob meine derzeitige Ernährung gesund oder ungesund ist, darüber kann man streiten; zu wenig ist es sicherlich. Dass ich es mit „mehr bewegen“ übertreibe, steht hingegen außer Frage: jeden Tag fast bis zur Erschöpfung, egal ob ich Lust habe oder nicht, egal ob ich mich kaum mehr auf den Beinen halten kann, egal ob die Muskeln und Gelenke schmerzen. Notfalls wird der Kreislauf eben mit Koffein aufgeputscht und die Schmerzen mit Tabletten bekämpft. Einfach mal ausruhen und sich den Körper erholen lassen? Nein! Kommt nicht in Frage!
Ich habe Angst vor dem Tag, an dem die Klinikmenschen mich auf den Gewichtsverlust ansprechen werden. Denn Gewicht habe ich sehr viel verloren und das sieht man auch. Mir sind auch nicht die Blicke mancher Ärzte und Pfleger entgangen. Sie registrieren das sehr wohl, auch wenn bisher noch niemand was dazu gesagt hat, zumindest nicht direkt…
Andererseits wünsche ich mir fast, dass irgendjemand irgendetwas dazu sagt. Nicht, weil ich unbedingt darüber reden möchte – dafür schäme ich mich zu sehr für mein Gewicht. Aber einfach damit klar ist, dass lobende Worte bezüglich Selbstverletzung nicht angebracht sind, weil es eben nicht wirklich besser geworden ist, sondern sich nur auf ein anderes Problem verlagert hat. Und vielleicht auch, damit jemand ein Auge auf meine körperliche Gesundheit hat… Hungern, gelegentlich erbrechen, exzessive Bewegung und regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln – das ist für den Körper schließlich auch nicht so ganz ohne…
Ich denke, Ambulanzpsychiater wird mich nicht darauf ansprechen. Der sieht mich jede Woche und wenn man jemanden oft sieht, bemerkt man auch starke Gewichtsabnahme nicht so sehr, weil es seit dem letzten Treffen ja immer nur „ein bisschen“ weniger Gewicht ist. Andererseits wurden in den letzten Wochen meine Blutwerte auffallend oft kontrolliert; vielleicht hat er doch was bemerkt.
Bei Dr. H. mache ich mir da schon mehr Gedanken. Der hat mich jetzt ein paar Wochen nicht gesehen, da könnte ihm beim Termin nächste Woche schon auffallen, dass ich deutlich weniger wiege als beim letzten Termin. Ich glaube, bei ihm würde ich mich auch nicht ganz so krass schämen, darauf angesprochen zu werden (auch wenn es immer noch unangenehm wäre).
Panik habe ich davor, dass der Herr Oberarzt was dazu sagt. Der war ja jetzt auch eine Weile im Urlaub und hat mich dementsprechend länger nicht gesehen. Und würde er was sagen, würde ich vermutlich auf der Stelle vor Scham im Erdboden versinken. Er wirkt einfach zu perfekt, zu makellos. Das ist er natürlich nicht, aber er wirkt eben so. Bei ihm schäme ich mich oft für meine Probleme, meine Schwächen, meine Nicht-Perfektion.
Ach, weiß auch nicht. Ich bin momentan sehr zwiegespalten, was die Ess- und Gewichtsproblematik angeht. Ich weiß, dass es ungesund ist, was ich tue und dass das ganz eindeutig wieder eine Eskalation der Essstörung darstellt. Ich sollte mit den Ärzten darüber sprechen. Andererseits ist mir das sehr sehr unangenehm und ich weiß auch nicht, ob ich wirklich ernsthaft ein gesünderes Ess- und Bewegungsverhalten anstrebe.